Dienstag, 11. Mai 2010
Gleichheit I
Hier in Norwegen sind wir alle gleich. Gleichheit ist wichtig. Dieser Eintrag heisst Gleichheit I, weil es sicher noch weitere geben wird. Gleichheit ist ein Thema, zu dem es in Norwegen viele Unterthemen gibt. Gleichheit hat unbestreitbare Vorteile. Deshalb wird Das Skandinavische Modell von Wirtschaftwissenschaftlern und Politikern auf aller Welt gelobt (aber nicht kopiert). Das Skandinavische Modell hat natürlich seine kulturellen Wurzeln. Die dicke Hauptwurzel, die Rübe des Skandinavischen Modells, sozusagen, ist die Gleichheit.
In Norwegen sind alle Menschen gleich. Naja, ausser denen, die keine Personnummer haben. Personnummer braucht man hier. Das ist eine Nummer, die mich und dich einzigartig macht. Also das Gegenteil von gleich. Und gleichzeitig ist es die Nummer, die dir und mir das Eintauchen in die norwegische Gesellschaft erlaubt, also das Gleichwerden. Ohne Personnummer können du und ich kein Bankkonto eröffnen, nicht zum Arzt gehen, kein Mobiltelefon kaufen. Dass du und ich dann nicht gleich behandelt werden, bedeutet aber nicht, dass von uns das Gleichsein nicht erwartet wird. In Norwegen erwarten wir, dass Geld nach einem für alle gleichen Verteilungsschlüssel ausgegeben werden soll: x% für Unterkunft, x% für Kleidung, und so weiter. Machen wir hier einen Fehler, gibt es Gerede. In Norwegen erwarten wir, dass alle Kinder mit den gleichen Werten erzogen werden. Der erste und oberste Wert ist - haben Sie es erraten? - Gleichheit. Der zweitwichtigste Wert in der norwegischen Kindererziehung: die Kleinen sollen Wasser trinken.
Aber genug des Einwandrergeredes: wie versprochen hat die norwegische Gleichheit viele Facetten.
In Norwegen sind wir so gleich, dass unbestreitbare Ungleichheiten dokumentiert und dann gegebenenfalls öffentlich verteidigt werden müssen. Hierzu werden zum Beispiel Einkommens- und Steuerlisten veröffentlicht, in denen jeder nachlesen kann wieviel sowohl der Nachbar als auch der Staatsminister jährlich verdient und versteuert haben, und - wie es mit dem Vermögen steht. Dann können auch der Pfarrer oder der Bettler an der Haustür damit argumentieren dass du oder ich dieses Jahr zehn Prozent mehr verdienen als im vorigen Jahr. Da muss doch was übrigbleiben für Bedürftige.
Es kommt aber noch gleicher: in Norwegen sind wir so gleich, dass wir laut (!) darüber nachdenken was sinnvoller ist um die Leistungen der Schulkinder zu homogenisieren: die schwachen Schüler mehr fördern oder die starken Schüler _weniger_.
In Norwegen haben wir ein eigenes Gesetz für die Gleichheit. Juristisch gesehen hat es den Status eines gewöhnlichen ungeschriebenen Gesetzes, praktisch aber durchzieht es die gesamte norwegische Legislatur, und hat daher vielleicht eher den Status einer Verfassung. Das Gesetz heisst Jante-Gesetz (wiedergegeben aus dem norwegischen Wikipedia). Geschrieben wurde es von Aksel Sandemose im Jahr 1933. Es beinhaltet die folgenden Paragrafen:
1. Du sollst nicht glauben, dass du etwas besonderes bist.
2. Du sollst nicht glauben, dass du so viel wert bist wie wir.
3. Du sollst nicht glauben, dass du klüger bist als wir.
4. Du sollst dir nicht einbilden dass du besser bist als wir.
5. Du sollst nicht glauben, dass du mehr weisst als wir.
6. Du sollst nicht glauben, dass du mehr bist als wir.
7. Du sollst nicht glauben, dass du etwas taugst.
8. Du sollst nicht über uns lachen.
9. Du sollst nicht glauben, dass sich jemand etwas aus dir macht.
10. Du sollst nicht glauben, dass wir von dir etwas lernen können.
Später in seinem Buch erwähnt Sandemose den 11. Paragrafen:
11. Du glaubst vielleicht nicht, dass ich etwas über dich weiss?
Das Wort Gleich kommt nicht vor, aber der hellhörige Leser kann es vielleicht doch im Hintergrund vernehmen?

Wie gesagt: Fortsetzung folgt wahrscheinlich.

... comment